Wenn man über Nacht das Unvergleichliche, das märchenhaft Abweichende erleben will, schifft man sich nach Venedig ein. Auf der Fahrt über See genießt das Auge den leeren, ungegliederten Raum. Ein Morgen mit Sonne auf der Erde und auf dem Wasser, das prickelnd, salzig, lebendig ist. Wir erinnern uns, wie Gustav Aschenbach davon träumte auf dem Wasserwege ein anderes Venedig zu erreichen, als man, zu Lande sich nähernd, die Wasserstadt je angetroffen hat. Als ob das feuchte Geschlecht des Meeres ein spätes Abenteuer des Gefühls dem fahrenden Müßiggänger vielleicht noch bereit hielte, kehrte das Schiff nach schwerfälligen Manövern seinen Bugspriet der Riva degli Schiavoni zu, ein Klatschen schmutzig schillernden Wassers mischt sich unter einen Ton von hellen und dunklen jungen Stimmen.
»Wer hätte nicht einen flüchtigen Schauder, eine geheime Scheu und Beklommenheit zu bekämpfen gehabt, wenn es zum ersten Male oder nach langer Entwöhnung galt, eine venezianische Gondel zu besteigen? Das seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge sind, es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsteres Begängnis und letzte, schweigsame Fahrt. Und hat man bemerkt, dass der Sitz einer solchen Barke, dieser sargschwarz lackierte, mattschwarz gepolsterte Armstuhl, der weichste, üppigste, der erschlaffendste Sitz von der Welt ist?« 1
Aus dem Mittelalter her rührt die Gestalt des Viertels hinter der Riva degli Schiavoni. Schiavoni, die Fremden, die Dalmatischen Seefahrer waren es, die diesem venezianischen Stadtteil sein Gepräge und den Namen gaben. Inmitten von Salzmagazinen, Stein- und Kohlelagern hatten Steinmetze, Tischler und Rudermacher ihre Werkstätten aufgeschlagen. Matrosenrudel lärmten durch die Gassen.
Abgerückt vom Lagunenwasser, einen Häuserblock zurückversetzt, liegt der Campo Bandiera e Moro, Marktplatz des Viertels. Der Platz ist fast quadratisch. Ein Platz mit Durchgängen, engen Gässchen: Calle del Dose, Calle della Pietà, Calle Terrazzera, Calle della Morte, Salizida del Pigirater, Calle in Crossera. Ein Haufen Stücke aus Glas, rote, grüne oder himmelblaue, Stückchen aus gefärbtem Glas liegen in Schaufenstern. Über den Himmel zieht ein magentafarbener Wolkenbausch.
Ein Leben im Netzwerk von Mikroräumen blieb hier erhalten, das Viertel zwischen Arsenale und Riva degli Schiavoni ist sich selbst treu geblieben, volkstümlich, lebendig. Sein pittoresker Charakter beruht auf einer Summe von Kleinigkeiten: kleine Läden, die frühmorgens geöffnet werden, ein Bistro, das mit beschatteten Tischen zur Einkehr einlädt, eine Sitzbank unter einem duftenden Maulbeerbaum, wo die Einheimischen in venezianischer Mundart palavern, Kinder können auf dem Campo frei herumtollen, im Blickfeld der Mutter, die sie vom Küchenfenster aus rufen können. Und Afrikaner bilden in der Dämmerung einen Sitzkreis auf dem Platz – sie handeln mit Taschen.Video
Den Platz dominiert die Pfarrkirche Johannes des Täufers. Die Kirche San Giovanni Battista in Bragora ist eine dreischiffige Basilika mit offenem Dachstuhl, in ein mildes Frühlicht hat der Maler Cima da Conegliano die Taufe Christi getaucht. Das monochrome Frührenaissance-Gemälde befindet sich an der Stirnseite der Kirche am Hochaltar.
In der Kirche kommt man Antonio Vivaldi ganz nahe, hier ist das Taufbecken zu sehen, unter dessen roten muschelförmigen Schalen er als Säugling das heilige Sakrament der Taufe empfing. Will man den denkwürdigen Tag nachlesen, kann man den liebenswürdigen Pfarrer Don Giovanni Favaretto um Einsicht in das Taufbuch ersuchen, das in der Sakristei verwahrt wird. Das Taufbecken, aus dem 15. Jahrhundert, ist eine achteckige Schale aus rotem veronesischen Marmor mit dem Wappen der Familie Gritti. Es befindet sich in der linken Seitenkapelle. Die Köstlichkeit des Materials lässt uns an die lebendigen Dinge der Natur denken: den Kelch einer Blume, die Hülle einer Frucht, das glänzende Auge bestimmter exotischer Tiere und vor allem an die Quelle des Seins selbst, nämlich an Blut. Das Wohnhaus Vivaldis lag direkt neben der Taufkirche. 1722 wechselte Vivaldi in ein Haus in den Fondamente del Doge, 1730 übersiedelt er in das geräumige Anwesen in der Calle San Antonio am Canal Grande.
Von seiner Taufe ist über Vivaldi Folgendes bekannt: Antonio Lucio Vivaldi wurde in den Händen der Hebamme notgetauft – sie fürchtete den frühen Tod des Kindes. Am 4. März 1678 kam er zur Welt. Zwei Tage darauf wurde das Kind in die Kirche getragen. Im Taufbuch der Kirche San Giovanni Battista in Bragora lesen wir die Taufeintragung Antonio Vivaldis: »Am 6. Mai 1678 Antonio Lucio, Sohn des Herrn Giovanni Battista, Sohnes des verstorbenen Augustin Vivaldi, Instrumentalmusiker, und der Frau Camilla, Tochter des verstorbenen Camillo Calicchio, seiner Gattin, geboren am letztgefallenen 4. März, der wegen Lebensgefahr das Taufwasser zu Hause von der Patin, der Hebamme Frau Margarita Veronese, empfing, wurde heute zur Kirche gebracht und empfing von mir, Giacomo Pacacieri, Pfarrer, die Exorzismen und das heilige Salböl; gehalten wurde er von Herrn Antonio, Sohn des verstorbenen Gerolemo Vecchio, Apotheker zum Dogen in unserer Pfarre.«Video
Begierden und Gefühle wird der Heranwachsende in die Musik stecken, sie darzustellen fähig. Und seine Tage und Jahre ziehen in der Wasserstadt sonnengelb dahin.
62 Jahre später. Wir schreiben das Jahr 1740. Auf der alten, erstmals 1211 erwähnten Heer- und Pilgerstraße nach Steiermark, Kärnten und Italien, der Wiedner Hauptstraße, nähert sich eine Kutsche – aus Venedig kommend – der Residenzstadt Wien.
Der Himmel ist nackt, schön offen, der Wind weht leicht, die ungeheure Heuladung schwankt vor ihnen und die vier Pferde wirbeln mit den Hufen den Staub auf.
Antonio Vivaldis Kutsche durchquert den Vorort Wieden und passiert das Kärntnertor, er wird im Haus »zum fliegenden Rößel«, gelegen unweit des Kärntnertortheaters, Quartier nehmen. 2
Unter der Sonne Wiens trank er den Todeskelch, den übervollen.
Eine Masse von sonoren Vibrationen schwebt über der kaiserlich-königlichen Residenzstadt.
Die Stadt ist für den Eindringling eine unerschöpfliche Quelle der Erregung. Ihre Unerschöpflichkeit treibt den Fremden Tag und Nacht umher; die nächtliche Stadt zumal mit ihren unergründlichen Konstellationen, Zufällen und Schicksalen zieht den voyageur an.
»Ist sie gut, ist sie schlecht? Von einer Stadt spricht man oft wie von einer Person, man beäugt ihre Launen, beschreibt ihr Temperament, verleiht ihr einen Charakter. Man beugt sich über sie wie über ein Kind, sie ist genauso unberechenbar. Man erforscht den Körper, der so geheimnisvoll ist wie der Leib einer Frau. Man schaut zu, wie sie lebt, wie sie hofft, ihr Geheimnis aufzutun.
Ist sie gut, ist sie schlecht? Ein Nichts genügt, und in einem Augenblick kippt alles um. Eine Brotknappheit, eine Feuersbrunst oder steigende Flut, ein Gerücht oder die Angst, die sich in Windeseile in den Straßen verbreiten, ein Fest, eine Schlägerei, und an der friedlichen Oberfläche bricht eine Kluft auf« (Arlette Farge).
Wien, einige Meter über Null auf Schotter, Schlamm und Silt gebaut, mit einer Sumpfseele, mit der Seele einer Sanddüne, eines Fischerdorfes.
Wie Ringe einer Halskette, die ineinander greifen, ragen die Stadttürme vertikal in den Himmel. Bei der genialen Bastelei am Ziegelwerk haben Hunderte Maurer und Tagelöhner tagein, tagaus geschuftet. Das System des Krieges mobilisiert die Wahrnehmung ebenso wie die Waffen und Aktionen. Die Kriegslist ist grenzenlos.
Die Gassen in der Stadt sind 110, größere und kleinere, sie sind im Ganzen weder sehr breit noch gerade. Die Häuser sind vorzüglich fest und dauerhaft, von Ziegeln und nur wenige von Stein gebaut. Das Häuser bauen geht in Wien sehr geschwind.
Die epische Bestandsaufnahme des vorübereilenden Alltags zeigt Kirchen, Klöster und Paläste, über dem Gebirge von Häusern liegt jedoch etwas von unerbittlicher Härte und gebieterischem Anspruch. Wohin man blickt, sieht man Passionsfiguren, Heilige, die in die Höhe weisen, goldgefiederte Engel wachsen in den göttlichen Himmel. Der Erdboden ist mit Lumpen der Armut übersät, in vielen Gassen steckt die Geschichte des Leids.
Auf der einen Seite die Stadt und der Staat mit ihren Grenzen, und dann am Horizont eine ganz andere Linie, die der Nomaden. Sie kommen und gehen, sie überqueren bei ihren Vor- und Rückwärtsbewegungen Grenzen, bilden Banden, Meuten und Rudel. Sie sind simultane Zustände zum herrschenden Staatsapparat und sie haben eine anomale Stellung eingenommen; sie hausen in Wäldern und auf Feldern, liegen auf Stroh, leben mit Tieren und aus Pflanzen: sie alle leben nach dem Gesetz der Wildnis, und das bedeutet gesetzlos leben. Das Anomale ist eine Position oder ein Komplex von Positionen gegenüber einer Mannigfaltigkeit. Meuten haben einen ganz anderen Ursprung als Familien und Staaten. Sie wirken unaufhörlich von unten auf sie ein, erwähnen Gilles Deleuze und Felix Guattari, und stören sie von außen mit anderen Lebens- und anderen Ausdrucksformen. Sie gleichen Winden und Unwettern, Bakterien, die Ansteckung verbreiten. »Spinoza gebührt das Verdienst, den Körper auf der Konsistenzebene durch einen Längengrad und einen Breitengrad definiert zu haben, das heißt, durch die Gesamtheit von materiellen Elementen unter bestimmten Verhältnissen von Bewegung und Ruhe, von Schnelligkeit und Langsamkeit (Längengrad) durch die Gesamtheit von intensiven Affekten, zu denen er bei einem bestimmten Grad von Macht oder Vermögen fähig ist (Breitengrad). Nichts als Affekte und räumliche Bewegungen, unterschiedliche Geschwindigkeiten […]. Ihr habt die Individuation eines Tages, einer Jahreszeit, eines Jahres, eines Lebens (unabhängig von der Dauer) - eines Klimas, eines Windes, eines Nebelschwadens, eines Schwarms, einer Meute (unabhängig von der Regelmäßigkeit) […] Die Straße verbindet sich mit dem Pferd, sowie die im Todeskampf liegende Ratte sich mit der Luft und das Tier und der Vollmond sich miteinander verbinden […] Klima, Wind, Jahreszeit oder Stunde haben kein anderes Wesen als Dinge, Tiere oder Personen, die sie bevölkern, die ihnen folgen, in ihnen schlafen oder aufwachen.« 3
Die Stadt, ein einzigartiges Gehäuse für Dinge aller Art, stumpfe und spitze, weiche und harte, runde und eckige, helle und dunkle. Die große Stadt bringt das Entlegenste zu Figuren und Konstellationen zusammen, die Hingabe ans Vergnügen ist der eigentliche Lebensrhythmus. An einer Handpomade und dem berühmten Erdbeerwasser, welches eine überaus zarte Haut macht, ergötzten sich die einflussreichsten Klassen des vornehmen Wien. Minutiös geschnitzt, graviert, vergoldet und mit Perlen besetzt waren die Gestelldekorationen des koketten Fächers, der im Rokoko die Allüren des leichtesten Dinges anzunehmen vermochte, nicht selten waren Fächer dieser Zeit mit hellfarbigen Liebesallegorien bemalt, die italienische Großzügigkeit der Zeit Ludwig XIV. schlägt durch.
Die Zecke kann Monate lang bewegungslos auf einem Baum ausharren, bis ein warmblütiges Tier unter dem Ast vorbeikommt, dann lässt sie sich fallen, klebt auf der Haut und saugt das Blut aus. Von der Welt kennt die Zecke nur das warme Blut. Genauso wurde in der barocken Epoche der Untertan nur als Werkzeug der schmarotzenden Oberschicht nicht als eine menschliche Person wahrgenommen. Das theologische Fundament absoluter Herrschaft im barocken Souverän bildet die Möglichkeitsbedingung für seine tyrannische Verwandlung, mehr noch für seine Vollendung als Tyrann. 4
Das kaiserliche Wien hatte viele perverse Gelüste. Ein römisch-griechisch geschminkter Adel liebte Tag und Nacht zu trinken, zu schmausen und zu huren.
Einen ersten Hinweis auf einen Kontakt Vivaldis zum Wiener Hof bekommen wir aus der Widmung der zwölf Konzerte op. 9, La Cetra (»Die Leier«, Druck, 1727) an Kaiser Karl VI. Nicht zu verwechseln ist der Druck mit dem autographen Stimmensatz gleichen Namens, datiert 1728, in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (Musiksammlung, Inv.-Nr. HS 15996). Die Sammlung der zwölf Concerti blieb nur unvollständig erhalten, fehlt doch die Stimme der Solovioline. Daher sind nicht weniger als fünf der Concerti nicht mehr aufführbar.
Vivaldis Widmungstext zu opus 9 (Druck) rollt sich ein, webt und flicht sich wie eine Liane:
»Heilige Kaiserliche Katholische und Königliche Majestät
Gewiß ist, Eure Kaiserliche Katholische und Königliche Majestät, aus vielen Gründen der eingewurzelte und alte Brauch lobenswert, an die Spitze von Werken, die ans Licht der Öffentlichkeit treten, den Namen einer berühmten und großen Persönlichkeit zu stellen, der der Autor auf diese Weise einen deutlichen Beweis seiner Verehrung darbringt, damit sie gleichzeitig sein Werk vor dem Tadel durch die anderen beschütze. Daher kommt es, erhabener Kaiser, daß ich glaubte, nicht in den Frevel der Überheblichkeit verfallen zu sollen, wenn ich in Befolgung eines löblichen Brauches dem Publikum diese meine Arbeit, wie immer sie auch sein möge, mit dem ruhmreichen Namen eines Monarchen darbiete, der der mildeste, großmütigste und wohltätigste Beschützer und Beförderer der Künste ist. Diese wachsen und gedeihen im Schatten Eurer unbesiegten Regierung, und dank Ihres großherzigen Schutzes glänzt durch sie unsere Epoche, der gegenüber die Vergangenheit zum Gespött wird, und welche Gegenstand des Neides für die Zukunft sein wird. Verschmähen es daher Eure Kaiserliche Katholische und Königliche Majestät nicht, die Geringheit dieser meiner Gabe mit dem gewohnten milden Wohlwollen entgegenzunehmen, während ich meine Gebete mit jenen der ganzen katholischen Welt vereine, damit Sie lange und glücklich leben mögen zur Vergrößerung Ihres Ruhmes, zum Schutz der schönen Künste und für die Sicherheit des allgemeinen Glücks. Antonio Vivaldi.« 5
Man muss bei dieser Art des Luxus der Rhetorik daran erinnern, dass die Antike den zwei ausdrücklich funktionalen Gattungen der Rede, dem Gerichtlichen und dem Politischen, eine dritte Gattung hinzugefügt hatte, die epideiktische, die Prunkrede, die bei der Zuhörerschaft Bewunderung bewirken sollte. Vivaldis Widmungen sind häufig und sie werden so konstant auf die unterschiedlichsten Personen und Situationen angewandt, dass man berechtigt ist, darin eine Diskursform zu sehen, deren wiederholtes Auftreten einer Pathetik seiner Zeit entspricht.
Vivaldis Scheitern als Opernkomponist in Ferrara wie auch seine Entlassung als Musiklehrer am Ospedale della Pietà 6 in Venedig stürzen einen Komponisten von europäischem Rang in eine tiefe, existenzielle Krise, er wird vergeblich Zuflucht am Hof Kaiser Karl VI. suchen, er hat die Aristokratie in Wien und in Böhmen sowie bürgerliche Theaterunternehmer als Auftraggeber im Blick – am Wiener Kärntnertortheater 7 erhofft er sich eine Realisierung seiner Oper L’oracolo in Messenia. Alle Vorhaben werden scheitern.
Unerwartet starb der römisch-deutsche Kaiser Karl VI. an einer Pilzvergiftung am 20. Oktober 1740, sein Tod löste eine einjährige Trauerzeit und ein Verbot von Lustbarkeiten 8 aus, es agierte der Kriegsgott Mars in Europa, Maria Theresia, die Tochter Karl VI., hatte ein labiles Erbe angetreten.
Am 16. Dezember 1740, wird die Regentin den Österreichischen Erbfolgekrieg zu führen haben. 9
Hundert und eine Geschichte zu Vivaldis Leben in Wien lässt sich keinesfalls schreiben. Vom Schauplatz der Handlungen Vivaldis in Wien zeugen lediglich eine Handvoll Dokumente, daraus lassen sich biographische Miniaturen ableiten, wir nennen sie »Biographeme« (Roland Barthes).
»Vivaldis Abreise [aus Venedig] muss kurz nach der letzten Zahlung der Pietà erfolgt sein. Aus einer Gerichtsakte vom 4. Juli 1740 ergibt sich, dass er am 24., 25. und 27. Mai in seiner Wohnung aufgesucht wurde, um als Zeuge geladen zu werden. Es ging um ausstehende Sängerhonorare für die letzte Opernproduktion vom Herbst 1739, Feraspe, die der damalige Impresario Dini zu verantworten hatte. Der Komponist sollte nun Auskunft über seine eigene Bezahlung geben. Die Nachbarn erklärten dem Gerichtsbediensteten jedoch, er habe bereits ›die Stadt verlassen‹. Demnach trat er seine Reise [nach Wien] zwischen dem 12. und 24. Mai 1740 an.« 10
Vivaldi stattete Herzog Anton Ulrich von Sachsen-Meiningen im Schnee-Winter am 8. Februar 1741 einen ersten Besuch ab, um seine Konzerte zum Ankauf anzubieten. Zwei Mal hatte er ohne Erfolg vorgesprochen. Wiewohl der Meininger Herzog als Mäzen bekannt war und bei seinen Wien-Aufenthalten stets große Bestände an Musikalien zusammengetragen hatte, ließ er Vivaldi nicht vor. 11
»Und Schnee, wie Majenblumen
Das Edelmüthige, wo
Es seie, bedeutend […]«
Friedrich Hölderlin · Mnemosyne
Ratlos, niedergeschlagen, manchmal angewidert, doch mit einem letzten Rest von Hartnäckigkeit bewegt sich Vivaldi in Wien. Seinem Fuß ist die Gasse ein Eisfeld.
Den einen eintönigen Tag begleitet ein anderer, ein Mond verstreicht und bringt einen anderen Mond.
Man geht leicht verloren in einer Stadt, die groß ist wie die Welt. Auf allen Seiten hohe, graue Häuser, das Grau des Tages, das Geröchel aus den Schlachthöfen, das dumpfe Maschinenstampfen aus den Manufakturen, geschunden beinah jede Kreatur, Einöden der Schwermut, Abende voller Tod.
Welches Durchdrungensein, Leben und Sterben hineingestreut, unsagbar traurig die Ungetrösteten – wie selbstverständlich alles, die Mechanik der Schicksale.
Ein zweites Dokument benennt den Verkauf von zwölf Musikalien für einen geringen Geldbetrag. Am 28. Juni 1741 bestätigt Antonio Vivaldi handschriftlich dem Sekretär des friaulischen Adeligen Tommaso Vinciguerra di Collalto (1710-1769) den Empfang von zwölf Ungarischen Dukaten »per tanta musica«:
»28. Juni 1741 Wien / Ich Unterzeichneter habe durch den Herrn Sekretär Seiner Exzellenz des Herrn Antonio Vinciguerra Grafen von Collalto 12 Ungari auf Rechnung und Anordnung genannter Seiner Exzellenz für eine an ihn verkaufte Menge Musikalien erhalten. Wert 12 Ungari. / Ich Antonio Vivaldi bestätige das Obenstehende mit eigener Hand.« 12
Möglicherweise hat Vivaldi die Quittung mit verbundenen Augen geschrieben. Er weiß, dass sich die Feder bei der Anführung der lächerlich kleinen Verkaufssumme sträuben wird. Ohne zu wissen, ob er Buchstaben und Zahlen gebildet hat, unterschreibt er in pflanzenhafter Schrift. In diesen Buchstaben seines Namens ist alle Trauer der letzten Monate vereinigt, der Name ist wie ein Eigenschaftswort, sagt Wittgenstein. Zwischen dieser Quittung vom 28. Juni und Vivaldis Tod in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1741 liegen 30 Sommertage.
Er befindet sich in einem Schwund-Zustand, wegen Ausweglosigkeit und drohenden Geldmangels.
In Wien ist er ein Fremder, ein Ausländer. Ein arbeitsloser Musiker.
Ein Bittsteller.
Eine anstößige Existenz.
Griech. xeniteia: Aufenthalt im Ausland, Fremde.
Griech. xenos: fremd, Fremdling, Ausländer, Söldner.
Griech. stenochoria: Enge, Engpass, Bedrängnis, Not.
»Fantom, vom eigenen reinen Glanz hierher verwiesen
Erstarrt er unter dem verachtungskalten Traum
Den sinnlos im Exil vorgezeigt das SCHWANENZEICHEN.« 13
Es ist herzzerreißend, zu sehen, wie ein berühmter Komponist dergestalt um sich schlagen muss, um seinen schwachen Körper aufrecht erhalten zu können, damit das Blut in seinen Adern nicht zum Stillstand kommt und weiterhin an sein betrübtes Herz gelangt, damit sein Atem nicht ausbleibt, er, der genau weiß, dass er mit jedem Atemzug den Tod ein wenig näher kommen sieht und seinen unvermeidlichen Geruch ein wenig näher spürt: Verzweiflung, Schwäche, Ermüdung, Entkräftung, ein Mensch, dessen Körper und dessen Kopf solchen Zuständen ausgesetzt war, arbeitet daran, alle Teile seines ausgehöhlten Ichs, das durch ein unerbittliches Schicksal angegriffen wurde, zusammenzusetzen. Der Körper ist an der Grenze seiner Dehnung und Kräfte angelangt.
Die Kunst Vivaldis hält eine Komplizenschaft mit der Lungenkrankheit Asthma. Erkrankungen der Lunge machen Fieber und müde. So dehnt sich Vivaldis ganzes Leben zwischen Beschleunigung und Verlangsamung des Atems.
Am Ende zerbricht Vivaldis Lunge wie ein Stück Porzellan. Wie auf Unterwasser- oder Vulkankarten die Angabe glühend heißer Zonen, kalter oder warmer Strömungen ausgezeichnet ist, so hat die Krankheit ein unausrottbares Gerinnsel in der Lunge hinterlassen, er stirbt an »innerl. Brand« 14 [innerem Brand].
Was man über den Tod sagen kann, sind die Episoden und Grade des Sterbens – und das Sterben kann lang sein.
Antonio Vivaldi starb in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1741 in Wien, am 28. Juli wurde er auf dem Bürgerspital-Gottesacker im Vorort Wieden begraben. Er war 63 Jahre alt. Der Totengräber ist sein letzter Gefährte gewesen.
Der Tod im Sommer. Wer jemals ein teures Wesen verloren hat, erinnert sich mit Schrecken an die Jahreszeit, das Licht, die Blumen, die Düfte, den Einklang oder Kontrast zwischen der Trauer und der Jahreszeit. Wie man in der Sonne leiden kann!
Das Protokoll der amtlichen Totenbeschau sowie das Toten-Gebührenbuch des Dompfarramtes St. Stephan sind die letzten Dokumente zum Aufenthalt Vivaldis in Wien. Der Eintrag im Toten-Gebührenbuch zum Tod des Komponisten lautet: »Conduct / Der wohl Ehrwürdige / Herr Antoni Vivaldi, / welt[licher] Priester, ist in / Satleri[schen] Haus beym Kar- / ner Thor an In[n]er[lichen] Brand / bschaut worden, alt 60 / Jahr, in Spitaller Gotts / acker. / Kleingleüth ... 2,36 / Herrn Curaten ... 3,- / Bahrtuch ... 2,15 / Pfarrbild ... -,30 / Grabstell ... 2,- / Bahrleicher und Mesner ... 1,15 / Kirchendiener ... -,30 / 6 Trager mit mantl ... 4,30 / 6 Windlichter ... 2,- / 6 Kuttenbuben ... -,54 / Bahr ... -,15 / Pelican / S[umma] 19,45 [19 Gulden und 45 Kreuzer = rund € 600]« 15 Video
Auf einem Kupferstich Salomon Kleiners sehen wir das Areal des Bürgerspital-Gottesackers mit kippenden Grabkreuzen, ungestalten Erdhügeln, dem hoch aufgerichteten Kreuz und einer hölzernen Einplankung dargestellt. 16 Der geweihte Raum ist eingehegt. Zwischen der Außenwelt und dem locus sacer ist eine trennende Schranke gesetzt, oft in Form eines Lebhages aus Rosen. Auf einem Plan der Wieden lesen wir die Eintragung »Rosengassen«.
Im Blick zurück: Infolge der Pest hatte Wiens Bürgermeister Hanns von Tau 1571 einen Weingarten auf der Wieden zur Errichtung eines Leichenhofes angekauft. 17
Nach Erlöschen der Seuche benützte die Pfarre St. Stephan diesen Leichenhof siebzig Jahre hindurch und trat ihn 1640 an das Bürgerspital ab. Aus dem 17. Jahrhundert her rührt die Bezeichnung des Friedhofes als »Armensünder-Gottsacker«. Ab 1638 setzte die Totenbruderschaft der Augstinerbarfüßer die zum Tode Verurteilten auf der Wieden bei. Die Namen der hingerichteten Lumpenexistenzen finden sich im »Verzeichnus deren von einer Hochlöblichen Privilegirten Kay(serlich) König(lichen) Todten Bruderschafft übernohmenen Malleficanten« 18 . In der 2. Türkenbelagerung im Jahre 1683 wurde der Friedhof zerstört. Nach dem Wiederaufbau der Kirche und ihrer mehrfachen Erweiterung führte Pfarrer Joseph Lachenbauer am 1. Mai 1783 aufgrund der kaiserlichen Verordnung vom 30. Juni 1783 die Schließung des Gottesackers durch. Man planierte die Kapelle und versteigerte die Baugründe. 1815 hat man über Teilen des Gottesackers das Polytechnische Institut errichtet.
Das Gesicht des Friedhofes ist ein volkstümliches, changierend zwischen kleinbürgerlichen und proletarischen Existenzen, die hier begraben wurden. Der »Spitaller Gottsacker« hatte einen Umfang von einem Joch und 213 Quadratklaftern [= 0,652 ha] und lag südlich des Wienflusses. Die Wien, ein Wildbach, wie er phallisch aus Gebirgen durch das Wiental tost, ist ein großer Fluss, der auch für Sperma steht. Im strudelnden Flusslauf und seinem weißen Geschäum waten kohlschwarze Füße, über die Sandbank hallt das klingende Lachen der Lumpenkinder.
Vivaldis Musikproduktion setzt meisterhaft und bestimmt von Beginn an ein. Es sind Ausfälle in alle Richtungen des musikalischen Ausdrucks und es ist die Zärtlichkeit des Moments, in der die musikalischen Notate immer wieder innehalten.
Die Ergriffenheit, die Vivaldis Musik auszulösen vermag, hat etwas Hochfliegendes, sie bewegt sich, sie wird vokal außerhalb des normalen Tonraumes der Stimme. Die Stimme ist Diffusion, Eindringen, sie geht durch die ganze Oberfläche des Körpers, durch die Haut. Stimme ist wie Fett. Die Stimme ist nicht der Atem, sondern durchaus jene Materialität des Körpers, die der Kehle entsteigt, dem Ort, an dem das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird.
Das immer noch nicht ganz erschlossene Corpus von Vivaldis Vokalmusik ist ein Grenzgang von einem Ausnahmezustand musikalischer Affekte zum nächsten, es ist eine Art Raserei der Musik wie sie später bei Bellini formvollendet auftreten wird. In allen möglichen Posituren, die die Gesangsstimme einzunehmen vermag, wird sie mit erprobter Maestria vom Komponisten dem Sänger auf den Leib geschrieben. Die Gesangsstimme lässt Vivaldi immer wieder mit Traversflöten-Echo in ungeahnte Höhen flattern: Questa dolce cosa! Musik von rokokozarter Anmut. Statik weicht den chromatisch absteigenden Läufen; die Töne treiben in einen Strudel, in eine furiose Bewegung. Man denkt an die Kuppelgemälde des Barock, in denen das Figurenpersonal in einem Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion gebannt scheint. In diesem theatrum sacrum stürzen Heilige und Heroen herab aus schwindelerregenden Höhen, oder steigen auf in endlose Himmel, alle scheinen von der Schwerkraft erlöst. Balance zwischen dort und hier, Diesseits und Jenseits.
Das religiöse Gefühl, das sich in Vivaldis liturgischer Musik auf das Schönste äußert, hat kaum mit Dogmatischem, eher mit dem Pietismus einer schwärmerischen Gefühlsreligion – Klopstocks Messias – der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts, die nach vollständiger Entfaltung des Seelenlebens und der menschlichen Gefühlswelt drängt, zu tun. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass der Künstler, um ein Werk zu schaffen, offenkundig in religiösen Bezügen stand, Vivaldi war Dominikaner.
Bei Vivaldi ist die Nähe zu malerischen Wirkungen deutlich. Watteau, Fragonard sind nicht ferne; Giorgione, Tiepolo manchmal noch näher: Musik der Farben. Ultramarin, Apfelgrün, Mauve, Rosa, Schwefelgelb und Azurblau ist der Farbschirm in Vivaldis Musik. In seiner Musik schildert er bisweilen diese »Tristezza atroce della carne immonda« von welcher bei d‘Annunzio die Rede ist.
Es ist schon möglich, dass Vivaldi ein eitler, von langen, sorgfältigen Ankleideprozeduren erschöpfter Komponist gewesen ist, der den tadellosen weinroten Frack und ein apartes Schuhwerk bevorzugte und sich in der weichen Diktion des Venetischen äußerte. In seiner unerschütterlichen Frivolität ist es Vivaldi gelungen, eine Art Musik von kirschrotem Ton zu schreiben, ein langes Wirken der Zeit ist dazu erforderlich, die Alchemie eines langsamen Reifens. Es ist die Androgynität und Laszivität der barocken Epoche, der Vivaldi schillernde musikalische Grundfiguren zu verleihen vermag. Man muss diese Musik mit der Malerei, die sie flankiert, studieren: Beim rotblonden Pagen Tiepolos mit dem rosa Kragen und dem goldenen Kissen mit Troddeln - einem der zauberhaftesten Epheben, den die Malerei kennt – ist die venezianische Kunst zum Kühnsten aufgestiegen.
Antonio Lucio Vivaldi stirbt, als das Werk beendet ist. Er stirbt in einem Sommerzimmer.
In der Nacht, in Richtung der Nacht, Nacht-Sterben.
Der Körper ein einziges Todeskrampfen.
Sie trugen den Fremden auf einer Bahre in den Stephansdom, man sagt, jemand habe den Sommer verlassen. Meeerblau und Sandbeige der Lagunenstadt sind fern. »Gib mir einen Augenblick die Hand auf die Stirn, damit ich Mut bekomme«, wird er vielleicht am Totenbett zu seiner Gefährtin und Geliebten gesagt haben. Der Musiker Antonio Vivaldi und die Sängerin Anna Girò waren so etwas wie eine Doppelgestalt. 19 Einander herziehend, einander nachziehend, einmal er sie, dann wieder sie ihn. Das Glück des Geschehenlassens, das größte Glück! Annas roter Mund besiegelt den Tod des Freundes. Sie glättet liebend Stirne und Gewand. Schmächtig hingestreckt liegt er auf der Bahre. Das Gebimmel der Totenglocke, die Blumen des grünen Hochsommers; als der Totengräber das Grab auszuheben beginnt, wittert Fäulnis aus der Erde. Rösser tauchen aus dem Brunnen, in der Ferne ragt ein Kreuz im wilden Wein.
Und da sind die Raben:
»Manchmal kann man sie keifen hören
Um ein Aas, das sie irgendwo wittern
Und plötzlich richten nach Nord sie den Flug
Und schwinden wie ein Leichenzug
In Lüften, die von Wollust zittern.«
Georg Trakl · Die Raben
Wenn es Winter in der Wieden werden wird und ein weinfarbenes Licht brennt, una luce di vino brucia, werden die Schatten lange Verstorbener länger, der Schrei von Fledermäusen mischt sich unter Musik und Tanz in Bauernkellern, ein Schlitten schellt auf dem Eis. Endymion taucht aus dem Dunkel und beugt sich über trauervolle Wasser.
In Vivaldis Musik gibt es immer etwas, das Ihnen sagt, wo Sie sich im Jahresverlauf befinden, unter welchem Himmel, in welcher Kälte und in welchem Licht, etliche Takte und Sie sind immer mitten im Kosmos in seiner unmittelbarsten Form. Immer spüren Sie Jahreszeit, als Fluidum und als Zeichen zugleich.
Das Wetter, die Jahreszeiten: gleichsam die Essenz des Lebens, des Gedächtnisses. Diese Besetzung der Jahreszeit (des Wetters) setzt das Interesse bäuerlicher Zivilisationen an Jahreszeit und Wetter fort. Etliche Werke Antonio Vivaldis werden zum Zeugen, zum Denkmal der Jahreszeiten.
Musik kommt bei Vivaldi ländlich neu und neugeboren auf die Welt.
Milde, liebkosende Sonnenwärme, Gefühl der Leichtigkeit, Heiterkeit draußen und drinnen. Weiches Licht, durchsichtige Bläue der Luft. So glaubhaft warm ist Vivaldis Zephyros-Arie. 20